Bürgerbegehren in Mülheim

Im ND v. 31.08.07 schreibt Manfred Wieczorek, Mülheim:
Städtische Kliniken und Altenheime werden privatisiert, Kanalisationen verkauft und wieder zurückgemietet. Oft ist es die pure Finanznot einer Kommune, die zu abenteuerlichen Finanzkonstrukten führt. Ebenso oft ist es das erklärte Ziel der Politik, die öffentliche Hand zurückzudrängen. So propagiert die CDU/FDP-Landesregierung von Nordrhein-Westfalen offen: »Privat vor Staat«. Doch Bürger wehren sich, teils erfolgreich, gegen die Privatisierungswelle.
Ein vor gut zwei Jahren in Mülheim an der Ruhr gefasster Bürgerentscheid war historisch: Es war der erste vorbeugende Beschluss gegen die Privatisierung von Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge insgesamt. Über 27 000 Menschen stimmten mit »Ja«, womit das nötige Quorum von 20 Prozent der Wahlberechtigten erreicht war. An den Beschluss war die Stadt zwei Jahre gebunden. Anlass war die geplante Privatisierung von Altenheimen. Zwar wurde eine andere Lösung gefunden, doch ein Bündnis aus Bürgerinitiativen, den Ratsfraktionen der Grünen, Mühlheimer Bürger Initiativen (MBI) und von WIR aus Mülheim, der Gewerkschaft ver.di sowie Globalisierungsgegnern wollten weiteren Begehrlichkeiten einen Riegel vorschieben. Sie setzten den Bürger-entscheid durch.
Mit dem breiten oppositionellen Schulterschluss ist es inzwischen vorbei.
Als nach Ablauf der Zweijahresfrist ein Bürgerbegehren in den Rat der Stadt eingebracht wurde, um den Beschluss von 2005 zu bestätigen, scherten die Grünen und ver.di aus. Knapp 8000 Menschen unterzeichneten das Begehren, das vom Rat der Stadt mehrheitlich angenommen oder abgewiesen werden kann – ein wesentlicher Unterschied zum verbindlichen Bürgerentscheid. SPD, CDU, FDP und Grüne wiesen das Bürgerbegehren ab. Nun soll ein erneuter Bürgerentscheid am 9. September Klarheit bringen.
Ver.di und die Grünen verweisen darauf, dass die Situation eine andere sei als vor zwei Jahren. »Privatisierungen stehen jetzt nicht an, es geht nur um Möglichkeiten von Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP)«, sagt Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Jürgen Pastowski. Solche Modelle sollen sechs Schulen und der maroden Stadtbibliothek zugute kommen. Private Investoren sanieren die Gebäude, die die Stadt für bis zu 25 Jahre mietet. Auch der Gebäudeunterhalt von Hausmeister- bis zu Reinigungsarbeiten würde an private Investoren gehen und von der öffentlichen Hand bezahlt werden. »Wir wollen uns die Möglichkeit offenhalten. Das heißt noch lange nicht, dass wir jede Form von ÖPP unterstützen«, beteuert Pastowski.
Auf mehr als 170 Millionen Euro beziffert die Stadtverwaltung den Sanierungsstau bei Schulgebäuden und Turnhallen. Das Geld habe Mülheim nicht, und die Aufnahme weiterer Schulden verbiete das Haushaltsrecht. Für MBI-Sprecher Lothar Reinhard sind ÖPP aber eine teure Illusion. Er verweist auf die Nachbarstadt Gelsenkirchen. Dort musste nach dem Scheitern eines ÖPP-Modells das eigene Rathaus wieder zurückgekauft werden. »Wenn in einer Broschüre des Baukonzerns Hochtief zu lesen ist: ›Knapper Haushalt? Dringendes Bauvorhaben? Entspannen Sie sich. Schalten Sie uns ein.‹ Dann weiß man doch, wo es langgeht«, sagt Reinhard und klagt eine verfehlte Steuerpolitik an.
Derweil rüsten sich SPD, CDU und FDP für den Bürgerentscheid. Auf Postkarten und Plakaten legen sie einem Baby die Worte »Dein Nein rettet meine Schule!« in den Mund. Doch der Renner ist dies nicht. Achtlos ziehen die Passanten an dem gemeinsamen Infostand der drei Parteien vorbei. Wenige 100 Meter weiter liest Jürgen Haacks vor der heute nicht besetzten Infohütte der Privatisierungsgegner die angeschlagenen Flugblätter. Sein Entschluss steht fest: »Ich stimme mit Ja. Von Privatisierungen habe ich die Nase voll.«
SPD-Geschäftsführer Arno Klare räumt ein, dass es am 9. September eng wird. »Das Ganze ist zu kompliziert. Fällt das Stichwort Privatisierung denken die Leute sofort an die Bahn, die Post oder Telekom.« Er versteht das, mobilisiert dennoch gegen den Bürgerentscheid. Zeitgleich protestiert wenige Kilometer entfernt sein Parteifreund, Gelsenkirchens OB Frank Baranowski, gegen die Zurückdrängung kommunaler Unternehmen durch die Landesregierung. »Es gibt eine Ideologie privat vor Staat«, rügt er.

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