Sind Räte und Kollektiveigentum in Nordsyrien mit deutschen Waffenlieferungen zu retten?

Kurdische Demonstration in Lausanne, Schweiz, DeGust/flickr

Die Situation im nord-syrischen Bürgerkriegsgebiet ist derzeit unübersichtlich und scheint verzweifelt. In diesem Zusammenhang scheinen Waffenlieferung an die sogenannten Selbstverteidigungskräfte geboten. Aber da diese Idee gleichzeitig aus deutschen Regierungs- und Oppositionskreisen sowie Teilen sich als links verstehender sozialer Bewegungen kommt, ist zumindest Skepsis angebracht: Worum geht es im da und dort in der (parlamentarischen und außerparlamentarischen) Linken auftretenden Streit um Waffenlieferungen an Selbstverteidigungskontingente der YPG/YPJ in Rojava, der vorwiegend kurdisch geprägten Region im Norden Syriens?

Für die türkische Regierung stellt Rojava eine mehrfache Gefahr dar. Das Autonomiemodell Rojava fungiert als Vorbild für die kurdische Bevölkerung in der Türkei. Die Kantone haben erklärt, dass die natürlichen Ressourcen in Rojava kollektives Eigentum bleiben und mögliche Einnahmen zugunsten der gesamten Bevölkerung einzusetzen seien. Die Rätestrukturen, die auf Gleichheit basierenden Organisierungsprinzipien und die Kollektivierung von Eigentum stehen dem konfessionellen Konservatismus der AKP und der von ihr forcierten neoliberalen Privatisierungspolitik diametral entgegen. Desweiteren bildet Rojava ein Hindernis für expansionistische Ambitionen der Türkei, ihren Einfluss auf die Region auszudehnen. Die strategisch-ökonomische Ausrichtung der Türkei steht insgesamt in einem unübersehbaren Widerspruch zum Projekt Rojava. De facto widerspricht also die gesamte Vorgeschichte des Konflikts der Erwartung, die syrisch-kurdische Bevölkerung könnte Unterstützung von der Türkei erhalten. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf die Regierung der Autonomen Region Kurdistan (KRG). Genossenschaftliche Produktionseinheiten, eine progressive Geschlechterpolitik, demokratische Rätestrukturen in Rojava stehen der Gesamtausrichtung des von der Öl-Rente existierenden Quasistaats im Irak – allen Lippenbekenntnissen in der derzeitigen Lage zum trotz – entgegen.

Also Waffen liefern? Nein, nicht einmal die Autoren obiger Zeilen kommen in ihrem Artikel zu diesem Schluss:

Zentrale Forderungen aus Rojava und der Türkei könnten ohne in kriegspolitische Fallstricke zu tappen, übernommen werden. So haben die Einheiten YPG/YPJ auch erklärt, dass sie zusammen mit der PKK die Verteidigung Rojavas selbst leisten können. Die Türkei müsste diesen Einheiten nur einen Korridor auf ihrem Territorium für militärischen Nachschub und logistische Versorgung öffnen und die faktische Unterstützung des IS unterlassen. Diese Forderung möglichst laut zu stellen, ist nun notwendig. Die deutsche Regierung muss unter Druck gesetzt werden, damit sie ihrem NATO-Partner Türkei Druck macht. Ein militärisches Eingreifen der Türkei gilt es dagegen deutlich abzulehnen.

Und ansonsten kann innehalten und nachdenken – gerade wenn plötzlich so viel moralischer Druck aufgebaut wird – nie schaden. Raul Zelig liefert Thesen zur politischen Orientierung, ohne auf die Militarisierungsspirale reinzufallen (Quelle: Facebook):

1) An parlamentarischen Initiativen der deutschen Linkspartei wird es sicher nicht liegen, ob die YPG militärische Unterstützung der NATO
bekommt.

2) Den Politikern der Linken, die jetzt Waffen liefern wollen, geht es um etwas ganz anderes: an die Integration in den regierungsfähigen Apparat, sprich den Kotau unter die neoimperialen Verhältnisse.

3) Wer das nicht glaubt, soll sich mal anschauen, welche linken Abgeordneten sofort mit kurdischen Organisationen an der Grenze bei Kobane waren: nämlich jene Abgeordnete (wie Jelpke, Hänsel oder Leidig), die gegen deutsche Waffenlieferungen sind und eben nicht die Parteirechten um Liebich und Körte.

4) Die deutsche Debatte um Waffenlieferunen hat wenig mit der Solidarität mit Kobane zu tun und sollte davon getrennt werden.

5) Sicher ist kein vernünftiger Mensch heute traurig, wenn NATO-Flugzeuge (12 Mal in 2 Wochen, um genau zu sein, nicht gerade „massiv“) den IS bei Kobane bombardieren. Aber NATO und Bundeswehr sind eben keine Ansprechpartner emanzipatorischer Politik, an die sich appellieren ließen. Es sind Einrichtungen, die beherrschen sollen. Alles andere ist Fantasy-Roman.

6) Es ist etwas Anderes, ob kurdische Demonstranten Gleise besetzen, die Haltung von USA und EU skandalisieren und ein „Eingreifen der Welt“ fordern oder ob deutsche Linke, die nicht mal mehr auf Demonstrationen gehen, die deutsche Kriegsmaschine einsetzen wollen (und damit schon mal im voraus die nächste Modernisierungsrunde der Bundeswehr legitimieren …)

7) Wir könnten uns problemlos auf das besinnen, worüber Konsens besteht:

  • Unterstützung der YPG
  • Öffnung eines Korridors für Flüchtlinge und Aufständische aus anderen Teilen Kurdistans durch die Türkei
  • Sanktionen gegen die Türkei, wenn sie den IS weiter unterstützt
  • Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland
  • Massive Flüchtlingshilfe
  • Stopp von Waffenlieferungen an alle Staaten, die mit dem militanten Dschihadismus kooperieren (also Saudi-Arabien, Kuwait etc.).

8) Ja, es geht nicht nur um Kobane und auch nicht nur um Kurdistan. Syrien liegt in Schutt und Asche, in Irak ist überall Krieg. IS kontrolliert die Millionenstadt Mossul. Aber die Selbstverwaltung der KurdInnen ist doch eines der wenigen Zeichen, wie es anders sein könnte und deswegen entscheidet sich hier so viel.

9) Es ist nicht egal, ob wir demonstrieren. Denn nur wenn die Verhältnisse skandalisiert werden, werden sich die Regierenden genötigt sehen, den Fall Kobanes, der sie ja eigentlich nicht weiter juckt, vielleicht doch nicht hinzunehmen.

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